Interview mit Markus Gasser zu seinem Roman "Lil"

„Für mich sollte ein Roman immer aus dieser existenziellen Not und Dringlichkeit heraus entstehen“ Markus Gasser über Bücher in bewegten Zeiten, den Reiz der angelsächsischen Literatur und seinen aktuellen Roman Lil

Lillian Cutting, die Heldin Ihres Romans, ist so erfolgreich und unabhängig, wie es eine Frau um 1880 nur sein kann − eine Unternehmerin, die auf ihrem Weg nach oben gegen alle gesellschaftlichen Konventionen verstoßen und ganz New York gegen sich aufgebracht hat. Was hat Sie an dieser Figur gereizt?

Ihr Eigensinn und bedingungsloser Freiheitsdrang. Lil weist jede Rolle, jede Identität, in die man sie einsperren möchte, von sich. Als ich über den Roman nachzudenken begann, fragte ich mich: Was wäre, wenn Lil Cutting kein bloßes Opfer der „Männerwelt“ wäre, keine Femme fatale, auch keine Aktivistin, sondern jemand, der zuallererst nicht einmal als „Frau“, sondern gefälligst als Mensch anerkannt werden möchte? Wenn Lil Cutting eine leidenschaftliche Unternehmerin wäre und fern all jener teils unberatener Klischees, die noch heute manche vom „bösen Kapitalisten“ mit sich herumtragen? Und ich wollte meine Heldin, im Gegensatz zu Tolstoi mit seiner Anna Karenina oder Flaubert mit seiner Emma Bovary, gerade nicht ins Verderben schreiben. Im Gegenteil. Auch war es für mich eine befreiende Erfahrung, während der Arbeit am Roman – um Lil selbst zu zitieren – als Autor „kein Wesen männlicher Machart“ zu sein.

Ihre Protagonistin ist das Modell einer mächtigen Frau, die sich rächen kann: Nicht ohne Grund wird Lil auch „Lillian Billion“, „Lil the Kill“ und „Cutting Lil“ genannt. Sie ist ihr eigener Maßstab. Hatten Sie Vorbilder für Lil? Und schreiben Sie damit in gewisser Weise das Motiv der weiblichen Rache fort?

Sie haben völlig recht. Weibliche Figuren beschränkten sich in der Literatur bisher oft auf ihre Beziehungen zu Männern, ja sie erschöpften sich geradezu darin, „Mensch“ nur als „Frau“ und „Frau“ nur im Verhältnis zum geliebten Mann zu sein. Lil Cutting tut das nicht. Sie ist eine von Grund auf frei erfundene Figur, auch wenn ich beim Schreiben immer wieder an Elizabeth Packard dachte, an Charlotte Perkins Gilman, Sophia Duleep Singh, Kitty Marion und Emmeline Pankhurst: Menschen, von denen kaum jemand mehr weiß, wer sie wirklich waren … aber vor allem an die heute ebenso vergessene Großunternehmerin Hetty Green, die man, natürlich, gleich als „Die Hexe der Wall Street“ verleumdet hat. Der Roman versucht, ihnen allen − durch Lil − rückwirkend Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und, ja, durchaus, ein bisschen Rache war da dann auch mit im Spiel.

Das Reizvolle an historischen Romanen sind oft ihre Bezüge zu unserer Gegenwart. Nun spielt Lil im New York der 1880er. Inwiefern geht uns diese Geschichte auch heute an?

Ein aktuelles Beispiel: Wer heute länger als sechs Monate um einen geliebten Menschen trauert, trauert „untypisch lange“ und überschreitet damit „die klar erwartbaren sozialen und kulturellen Normen“. Fragen wir uns bitte mal: Wer legt hier fest, was „typisch“ ist? Was als Norm, als „normal“ zu gelten hat, wird in den einschlägigen Handbüchern wie dem ICD pietätlos zum Gebot erhoben, und wer dagegen verstößt wie 1880 Lil Cutting, der ist „psychisch krank“. Diese Pathologisierung jeder Abweichung von einer willkürlich fixierten Norm hat um 1880 begonnen und geht heute durch uns alle. Frauen, die sich in dieser Welt durchsetzen wollen oder können, werden im Alltag hinter vorgehaltener Hand oft noch immer als „verrückte, aggressive, unattraktive und frustrierte Mannweiber“ fertiggemacht. Sie sind − aus dem Roman gesprochen − „Freaks“.

Schreiben ist für Sie Rollenwechsel. Was hat Sie von Daniel Defoe zu Lillian Cutting geführt?

Defoe war wohl der Erste, der einen bahnbrechenden Roman aus der Perspektive einer Frau verfasst hat: Moll Flanders. Darf man(n) aus weiblicher Sicht einen Roman schreiben? Man(n) soll, ja muss sogar, gerade jetzt! Defoe selbst hat in mehreren seiner Zeitungsartikel darauf hingewiesen, dass Männer ihre Frauen zu seiner Zeit in Irrenanstalten verschwinden ließen, und bei meinen Recherchen bin ich dann auf derart viele Geschichten gestoßen, dass ich davon einfach erzählen musste. Für mich sollte ein Roman immer aus dieser existenziellen Not und Dringlichkeit heraus entstehen.

Sarah Cutting, die Erzählerin des Romans und eine Nachfahrin von Lil, ist Journalistin beim Wall Street Journal, immer an ihrer Seite ihre Dobermann-Hündin Miss Brontë. Überhaupt spielt Ihr Roman immer wieder auf die Welt der angelsächsischen Literatur an. Warum?

Einfach weil ich seit meinem elften Lebensjahr von ihr am stärksten beeinflusst bin: Von Emily Brontës Wuthering Heights (Sturmhöhe) etwa habe ich mich bis heute nicht wirklich erholt − ich lese den Roman jedes Jahr mindestens ein Mal. Mich fasziniert die plotstarke Spannungsliteratur, und die kriegen angelsächsische Autor:innen am besten hin: Von Gillian Flynn über Graham Greene, Patricia Highsmith, Shirley Jackson bis zu Donna Tartt.

Die Fähigkeit, die Perspektiven zu wechseln und Literatur als Leser, als Literaturwissenschaftler, als Sachbuchautor zu reflektieren − macht das den Weg zum eigenen literarischen Schreiben schwerer oder leichter?

Schwerer, weil ich mich für die akribische Planung und Niederschrift eines Romans vollends aus dem distanzierten Standpunkt, über Literatur nachzudenken und zu schreiben, herausholen muss. Ich darf kein Bewusstsein davon haben, was ich mache: Erzählen kann ich nur, wenn ich dabei nicht diese kleinen Männer im Ohr habe, die analysieren, was ich da erzähle und wie. Zugleich aber ist der Weg zum literarischen Schreiben auch leichter, weil ich − für mich und meine Freund:innen des YouTube-Kanals „Literatur Ist Alles“ − ganz automatisch unendlich viel lese. Und ich lese gerade auch, um zu schreiben: Das eigene Handwerk lernt man ja nicht aus irgendwelchen Ratgebern, sondern ausschließlich durch Lektüre. Man entdeckt in sich dann plötzlich auch Fähigkeiten, von denen man nicht einmal ahnte, dass man sie hat.

„Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen“ – dieses Bild zieht sich durch die Wissenschafts- und Kulturgeschichte, um das Verhältnis der jeweils zeitgenössischen Wissenschaft und Kultur zu Überlieferung und den Erkenntnissen früherer Generationen zu beschreiben. Beschreibt es für Sie auch die zeitgenössische Literatur?

Ob man es zugeben möchte oder nicht: Man steht als Autor:in ganz unweigerlich in einer literarischen Tradition bis zurück zu Homer, die man sich zum Teil auch selbst gewählt hat, bei mir ist es zum Beispiel die Dialogkunst Jane Austens und das freie Fabulieren eines Gabriel García Márquez, der ohne Kafkas Verwandlung nie zum Erzählen gekommen wäre. Ulrike Sterblichs Drifter ist von Michail Bulgakows Meister und Margarita geprägt; Rebecca F. Kuang studiert immer Nabokov, wenn ihr beim Schreiben die Puste ausgeht. So geht es auch mir.

Neun Tipps zum richtigen Lesen haben Sie vor einiger Zeit auf „Literatur Ist Alles“ gegeben. Wenn Sie es knapp sagen müssten: Gibt es das überhaupt, das eine richtige Lesen für alle?

Ich glaube, man sollte an ein Buch immer mit der Frage herangehen, was die Autorin / der Autor damit wollte: Jedes literarische Werk trägt bereits auf den ersten Seiten seine eigenen Maßstäbe in sich, nach denen es gelesen und beurteilt werden will. Also vertraue man seinem eigenen Geschmack nicht allzu sehr: Man sollte das Universum der Literatur prinzipiell einteilen in jene Bücher, die man liebt, und die, die man noch nicht liebt, weil man sie noch nicht verstanden hat. Im Alltag sollte man ein Werk zunächst in einem Zug durchlesen wie beim Binge-Watching einer Streaming-Serie und danach nochmal: Fast jeder Satz in Fontanes Effi Briest hat mindestens zwei Bedeutungen, die will man sich doch nicht entgehen lassen!

Wer Sie kennenlernen durfte, der weiß, dass Literatur Ihnen buchstäblich alles ist: Man trifft Sie nicht ohne eine Tasche aktueller Lektüre, der man anmerkt, dass sie auch gelesen, im wörtlichen Sinne gebraucht wird. Post-It-Notizen wachsen aus den Buchschnitten. Ganz aktuell gefragt: Was treibt Sie als Leser in diesem Moment alles um?

Die Postkarte von Anne Berest, Anne Brontës Herrin von Wildfell Hall, Lauren Groffs Matrix, Prophet Song von Paul Lynch, Margaret Meyers Donnerschlag Die Hexen von Cleftwater, immer wieder Edgar Allan Poe, Marion Poschmanns Kieferninseln, Hundert Augen von Samantha Schweblin, Zeiten des Aufruhrs von Richard Yates, Mary Shelleys Frankenstein, ein wahres Meisterwerk, das man immer noch zu einer Schauerschnulze verniedlicht − und natürlich Murakami Haruki und Zadie Smith. Aber das war jetzt nur eine Momentaufnahme.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Mit Markus Gasser sprach Susanne Krones, Programmleiterin von C.H.Beck Literatur.